Unter Zwang passiert gar nichts Heidi Salaverría [2010]
In seiner Ästhetik schrieb Immanuel Kant: „Das Geschmacksurteil sinnet jedermann Beistimmung an; und, wer etwas für schön erklärt, will, dass jedermann dem vorliegenden Gegenstand Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären solle.“ [1] Wer etwas als schön erfährt und als solches erklärt, so also Kant, macht diese Erfahrung nicht für sich alleine, sondern in einem potenziell intersubjektiven Raum. Warum wollen wir, dass andere unser ästhetisches Urteil mit uns teilen? Kant beschreibt damit, so meine ich, ein nichtbegriffliches Anerkennungsverhältnis. Wir wollen in unseren subjektiven Urteilen, und d. h. auch in unseren ästhetischen Erfahrungen, von Anderen anerkannt werden, weil darin das Universelle unserer Partikularität manifest wird. Etwas von dem Besonderen der eigenen Subjektivität lässt sich mit-teilen. Doch anerkennen sich Selbst und Andere nicht nur im Sprechen, sondern auch im Sich-Zeigen. Dass das möglich ist, liegt an dem partiell und unausdrücklich geteilten Common Sense, der sich nicht erschöpfend sprachlich benennen lässt, weil das Selbst abstandslos Teil davon ist und diesen bis in seine Gewohnheiten hinein verkörpert. Selbst und Andere haben durch den geteilten faktisch-fiktiven Common Sense einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Doch sind wir glücklicherweise nicht vollständig ideologisch indoktriniert, das Selbst geht nicht im Common Sense auf, welcher, genau besehen, faktisch-fiktiv ist. Er wird nicht nur durch faktische Interessen und Machtverhältnisse aufrechterhalten, sondern auch dadurch, dass alle daran glauben, dass es ihn gibt. Cavells Beschreibung seines moralischen Perfektionismus klingt, als sei er für die Netzkunst geschrieben worden. „Andere exponieren also jene Selbste,“ schreibt er, „die wir selbst noch nicht (an)erkannt oder erlangt haben. Sie stellen unsere ‚Anderseitigkeit‘ (our beyond) dar.“ [2] Anerkennung von etwas Neuem, etwas Fremden am Schönen und am Anderen kann nur auf dieser zwanglosen Ebene ansetzen. Unter Zwang passiert gar nichts. Und das Gelingen der Anerkennung hängt wesentlich von dem ästhetischen Moment ab, in dem eine Verbindung zwischen Selbst und Anderen hergestellt wird. Diese Verbindung, deswegen halte ich den Gedanken des Gemeinsinns bei Kant für zentral, muss immer wieder partikular ausgetragen werden. Sobald dieser sich zu einem faktisch-fiktiven Common Sense verhärtet, in dem eine Gemeinschaft metaphysisch aufgeladen wird (Nation, Rasse, Partei, etc..) ist es mit der Begegnung vorbei, der Kampf um Anerkennung kippt in einen Krieg um Demütigung. Während bei Kant die Begründung des Gemeinsinns noch auf einem transzendentalen Subjekt fußt, wird in der Philosophie des Pragmatismus von Dewey die ästhetische Erfahrung an die jeweils kontingenten, gesellschaftlichen Übereinkünfte und ihre Ablagerung in leibkörperlichen Gewohnheiten zurückgebunden. Mit Dewey kann das bei Kant unbestimmt und bei Arendt zu sehr auf die Öffentlichkeit reduziert gebliebene Ansinnen im Bereich zwischen Sensus communis und Common Sense lokalisiert werden. Das Selbst sinnt sich Anderen in seiner Partikularität an, indem es seine eigene Stellung innerhalb eines spezifischen Lebensstils, innerhalb eines partikularen Common Sense, anderen exemplarisch offenlegt. Während Kant davon ausging, dass das Schöne sich universell ansinnen ließe, meine ich mit dem Pragmatismus, dass die Lebensformen, die im ästhetischen Anerkennungsprozess gezeigt werden, immer partikular sind. Mit der Partikularität sind zwei Seiten des Selbst angesprochen: Singularität und Situiertheit. Beides ist beweglich und veränderbar. Doch während die jeweilige individuelle Besonderheit bereits eine Kontur hat und sich dadurch von anderen absetzt, ist die gewohnheitsmäßige Verankerung im Common Sense vage. Wie kann etwas Neues aus dem vagen und in sich widersprüchlichen Common Sense generiert werden? Kreativität besteht nicht darin, dass etwas absolut Neues auf romantisch-geniale Weise in die Welt gebracht wird (und sich als Ideologie im Neoliberalismus besonders gut vermarkten lässt), sondern eher darin, dass – wie durch ein Kontrastmittel – zuvor nicht erkennbare vage Potenziale des jeweiligen Common Sense sichtbar gemacht werden, und eine besonders produktive Form sind Netzkunstaffairen. Für die transformative Weiterentwicklung von ästhetischer Erfahrung, so legt Dewey nahe, müssen die scheinbar unwichtigen Nuancen des Alltags und des Common Sense aufgeblendet werden. Das Neue erwächst dabei dem Naheliegenden, nicht dem weit Entfernten, die Muse schwebt nicht aus himmlischen Sphären herab, sondern schlummert im Alltäglichen, vermeintlich Banalen, besonders an den Rändern des Common Sense, im Verworfenen, im scheinbar Sinnlosen. Rancière beschreibt das Ästhetische als „Aufteilung des Sinnlichen,“ als „Umwandlung des Gedankens in die sinnliche Erfahrung der Gemeinschaft“ [3] und betont das Politische der Ästhetik, gerade auch in Hinblick auf den Gemeinsinn. Er schreibt: „Es gibt eine Ästhetik der Politik, weil die Politik zunächst das betrifft, was man sieht, was man darüber sagt und was man damit machen kann. Es gibt eine Politik der Ästhetik, weil die Ästhetik Formen der Gemeinschaft erschafft, die Ordnung der Wahrnehmung unterbricht und die sinnlichen Hierarchien erschüttert.“ [4] Wenn Netzkunstaffairen es schaffen, durch eine vorübergehende Verflüssigung der Grenzen der eigenen Identität, also der Grenzen zwischen Selbst und anderen und der Grenzen zwischen Sinn und Unsinn, neue Urteile zu produzieren, als würden sie Kunst produzieren, wenn die zwanglose vorübergehende Suspension der Ordnung einen Gemeinsinn erzeugen kann, in dem sich andeutet, wie es schön wäre, dann wird die Ästhetik tatsächlich zur Politik.
[1] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, (Werke in sechs Bänden, Bd. 5), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1983, A 63. [2] Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome. The Constitution of Emesonian Perfectionism, University of Chicago Press, Chicago, 1990, S. 125. Siehe auch: Richard Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus, Akademie-Verlag, Berlin, 2001, S. 58. [3] Jacques Rancière und Maria Muhle (Hg.), Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, b_books Verlag, Berlin, 2008,S. 69. [4] Jacques Rancière, Frank Ruda und Jan Völker (Hg.), Ist Kunst widerständig?, Berlin, Merve Verlag, 2008, S. 85.
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